O. Loretz: Entstehung des Judentums

Titel
Entstehung des Judentums. Ein Paradigmenwechsel


Herausgeber
Loretz, Oswald
Reihe
Alter Orient und Altes Testament
Erschienen
Münster 2015: Ugarit-Verlag
Anzahl Seiten
752 S.
von
Stephan Lauber

Oswald Loretz, seit 1962 an der Universität Münster tätiger Alttestamentler und Protagonist der Ugarit-Forschung, verstarb im April 2014. Der vorliegende Band, an dessen Fertigstellung er bis zuletzt arbeitete, vereinigt über die letzten Jahrzehnte entstandene Studien und wurde posthum von Loretzʼ langjährigem Kollegen Manfred Dietrich in der von beiden zusammen mit Kurt Bergerhoff begründeten Reihe «Alter Orient und Altes Testament» herausgegeben.
Grundthese des Werks ist, dass die Entstehung des Judentums auf einem «Paradigmenwechsel» (den nachzuvollziehen für Loretz einem Paradigmenwechsel der exegetischen Forschung gleichkommt) nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 586 v. Chr. beruht, nämlich einem radikalen Umbruch der Jahwe-Verehrung, der in der nachexilischen Umdeutung der vorexilischen Traditionen einer sichtbaren Präsenz des Göttlichen im Tempel bestand: «Eine Kernthese des nach dem babylonischen Exil entstandenen Judentums ist, daß bereits im Ersten Salomonischen Tempel nur eine anikonische Jahwe-Verehrung üblich und geduldet war. Diese jüdische ‹historische› Fiktion lehrt also, daß sowohl das vorexilische als auch das nachexilische Israel immer einen unsichtbaren Gott verehrt habe.» (563) Mit dieser ahistorischen Rückprojektion der nach exilischen Anschauung, dass Jahwe nur durch seine «Herrlichkeit» (kabōd) und seinen «Namen» (šēm) präsent ist, auf die Verhältnisse des Ersten Tempels geht eine Fortsetzung altorientalischer Traditionen der Gegenwart Gottes in neu gedeuteter Form einher, etwa in der Etablierung neuer «sichtbarer Zeichen» (wie der Beschneidung, des Synagogenbaus oder der Deu tung des Lands mit dem Tempelberg als «Verheißungsland») (vgl. 562–564) oder der Verlagerung seiner Anwesenheit in seinen himmlischen Wohnsitz.
Die Studie, die sich mit einer Fülle aktueller Forschungsliteratur auseinandersetzt, enthält 29 Kapitel und ist in sechs Teile gegliedert.
Teil I: «Der Kerubenthroner Jahwe. ‹Jüdische› Umdeutung der vorexilischen Geschichte» (1–37) führt in Kap. 1 (1–6) in die These ein und illustriert sie in Kap. 2 (7–37) durch die Rekonstruktion der v.a. aus den Psalmen erhobenen Motivgeschichte d es Gottesepithetons «Kerubenthroner» und der (synekdochisch die Flügel der den Thron bildenden Keruben auf Jahwe übertragenden) Rede von den «Flügeln» Jahwes, die als Hinweise auf eine ursprünglich ikonische Jahwe-Verehrung gewertet werden.
Teil II: «Jüdischer ‹Monotheismus›» (39–63) weist in Kap. 3 (39–57) Jan Assmanns These eines vorexilischen, «mo saischen» Ursprungs des biblischen Monotheismus zurück und versteht das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes nach Jes 45,5a; Dtn 6,4, deren monotheistische ʼaḥad-Prädikation als Anwendung einer auch ugaritisch belegten Argumentationsfigur erläutert wird, als Aspekt der nachexilischen Auffassung von der Gestaltlosigkeit Jahwes. Kap. 4 (58–63) zeichnet die Ver hältnisbestimmung zwischen Jahwe und den Göttern der Fremdvölker in Ps 82 nach.
Teil III (65–165): «Binome der biblischjüdischen und der bibelwissenschaftlichen Historiographie» behandelt Aspekte verschiedener Konsequenzen, die sich aus der Grundthese der Studie ergeben. In Kap. 5 (65–71): «Biblisches Weltbild als Gegensatz zu moderner Natur- und Geschichtswissenschaft?» richtet Vf. sich gegen Voreingenommenheiten bei der histo rischen Rekonstruktion biblischer Geschichte und des biblischen Weltbilds. Nach Kap. 6 (72–83) sind die u.a. von Julius Wellhausen etablierten Binome «Israel» – «Judentum» und «vorexilisch» – «nachexilisch» durch das Gegensatzpaar «iko nisch/ anthropomorph» – «anikonisch/antiikonisch» zu ergänzen. Gegen die Auffassung einer evolutionären Entwicklung von einem westsemitischen Anikonismus hin zum Bilderverbot argumentiert Kap. 7 (84–101) und sieht die Katastrophenerfahrung der Tempelzerstörung als entscheidenden Auslöser. In Kap. 8 (102–118) interpretiert Vf. die Entstehung des biblischen Monotheismus als Reaktion auf die erzwungene (von manchen altorientalischen Traditionen vorbereitete) nachexilische Bildlosigkeit. Als eine «geglückte Erneuerung der Tradition» wertet Kap. 9 (119–130) die «mythhistoriographische Identifikation des Judentums mit Israel». Kap. 10 (131–142) beleuchtet die Verbindung von Motiven des in der Sinai-Theophanie historisch und geographisch fiktionalisierten Baal-Mythosʼ und von Traditionen über die Ursprungsereignisse Israels in der nachexilischen Historiographie. Dieses Thema setzt Kap. 11 (143–157) fort und interpretiert die Verwendung von Elementen des Baal-Mythosʼ als Identifikationsform des nachexilischen Judentums, nicht als Residuum vorexilischer Religiosität. In Kap. 12 (158–165) reflektiert Vf. die stets zusammenzudenkenden «Verflechtungen von Erinnern, Wiedererinnern einerseits und Vergessen, Verdrängen andererseits» (160).
Die Verbindungen zwischen altorientalischer Tempeltheologie und biblischen Vorstellungen behandelt Teil IV: «Der Thron Jahwes im Himmel. Himmlisches Urbild und irdisches Abbild» (167–259). Nach dem einleitenden Kap. 13 (167–170) thematisiert Kap. 14 (171–193) die Übereinstimmungen der Beschreibung des thronenden Wettergottes in KTU 1.101 mit den alttestamentlichen Vorstellungen vom Thronen Jahwes im irdischen Tempel (vgl. 1Kön 8,13) und zugleich auf dem mythischen Gottesberg in seinem himmlischen Tempel (vgl. Jes 6; 1Kön 22,19; Ez 1–2). Kap. 15 (194–211) deutet den Tempelweihspruch in 1Kön 8,12–13 bzw. 3Kgt 8,53 [LXX] vor dem Hintergrund des Baal-Mythos (KTU 1.101:1–18 und 1.6 I 53–67). Kap. 16 (212–236) befragt die nachexilischen Zionslieder Ps 48; 84; 42 auf Reminiszenzen vorexilischer ikonischer Jahwe-Verehrung, und Kap. 17 (237–247) zeichnet die «Umdeutung des vorexilischen Neujahrsfestes im Herbst in nachexilisch-eschatologischen Thronbesteigungsliedern» nach. Kap. 18 (248–259) legt Ps 27 als nachexilisch neu interpretiertes Zeugnis vorexilischer Tempelfrömmigkeit aus.
In Teil V: «Die Historisierung des Baal-Mythos in der biblisch-jüdischen Historiographie und Mythhistoriographie» (261–322) führt Kap. 19 (261–264) in die Thematik ein, anschließend behandelt Kap. 20 (265–312) die Umdeutung des Baal-Epithetons rkb ʻrpt «Wolkenfahrer» zur Bezeichnung Jahwes als rkb b ʻrbwt «Streitwa-genfahrer durch die Wüste» in Ps 68,5 als Mittel der nachkultischen Beschreibung von Jahwes «historischem» Eingreifen zugunsten Israels. Kap. 21 (313–322) klärt die ugaritische Terminologie für «Wagen» und Bespannungen des Wettergottes, aus der die Vorstellung von einem Streit wagen über bzw. in den Wolken erhellt, die in Ps 18,11 (=2Sam 22,11); Ps 104,3b–c durch die metathetische Ersetzung von «Streitwa-gen» (rkwb) durch «Kerub» (krwb) als Gefährt Jahwes uminterpretiert wurde.
Teil VI: «Jüdisches Bilderverbot und Jahwe-Anthropomorphismen im Kontext der westsemitischen Weinkultur» (323–560) wird in Kap. 22 (323–333) eingeführt mit einer Darstellung des «altorientalisch-biblischen Gegensatzes von ‹Gott Sehen› und ‹Gott nicht Sehen Dürfen›», das innerbiblisch als eine Auseinandersetzung über die Legitimität von Jahwe-Kult bildern zu verstehen ist. In Kap. 23 (334–362) unter-sucht Vf. die akkadischen, ugaritischen und hebräischen Bezeugungen der Kultformel «Die Gottheit schauen» und wertet sie als Element einer ikonischen Gottesverehrung. Das lange Kap. 24 (363–469) über die «‹Sättigung› mit Wein bis zur ‹Trunkenheit› beim ‹Angesicht› und zur ‹Rechten› einer Kultstatue wäh rend eines Banketts nach ugaritischen und biblischen Texten» zeichnet die Übertragung der Tradition von an westsemitischen Traditionen partizipierenden kultischen «Handlungen, die «eine bildliche, statuarische Präsenz des israelitischen Gottes bei Theoxenien im Tempel zur Voraussetzung haben» auf das «postmortale Geschick der jüdischen Gerechten» (496) nach. Kap. 25 (497–511) und Kap. 26 (512–535) gehen ugaritisch und biblisch bezeugten Ausdrucksformen von Begleiterscheinungen des kultischen Göttermahls nach, Kap. 27 (536–552) und Kap. 28 (553–560) besprechen die Hinweise v.a. in Ps 110,1–2; 68,18–19 auf die Rolle des Königs dabei.
Der abschließende Teil VII: «Summarium» bietet in Kap. 29 (561–564) eine knappe Auswertung im Blick auf die Kernthese, umfangreich gefolgt von Abkürzungsverzeichnis (565–580), Literaturverzeichnis (581–731) und Indices (733–752).
Da die Sammlung von Beiträgen nicht systematisch abgeglichen wurde, kommt es (besonders in Teil III) zu erheblichen Redundanzen. Der Argumentation ist streckenweise schwer zu folgen, weil die eigenen Thesen in der Auseinandersetzung mit forschungsgeschichtlichen Frontstellungen unterzugehen drohen und schwach profiliert sind. Dennoch bietet die materialreiche Studie zweifellos eine Fülle von Einsichten und Denkanstößen, die geeignet sind, einige bei der Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels weithin als Grundtatsachen anerkannte Gewissheiten wenn nicht zu erschüttern, so doch zumindest als neu begründungsbedürftig erkennen zu lassen.

Zitierweise:
Lauber, Stephan: Rezension zu: Loretz, Oswald: Entstehung des Judentums. Ein Paradigmenwechsel (=Alter Orient und Altes Testament 422), Münster 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 110, 2016, S. 475-477.

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